Hier entsteht das Morgen
Bislang gilt Deutschland nicht gerade als digital innovativ. Besonders der Mittelstand tut sich schwer: Die Risiken sind hoch, die Ressourcen knapp. Deshalb versucht sogar die Bundesregierung, Unternehmen und Start-ups zusammenzubringen. Funktioniert das?
Beim entspannten Blick aufs Wasser entstehen oft die besten Ideen: Das gilt für den Bodensee genauso wie für die Gewässer rund um Berlin, die Sven Slazenger regelmäßig mit seinem alten Boot befährt. Vor rund zehn Jahren verschlug es den Gründer und Geschäftsführer des Software-Unternehmens Interlake vom Süden Deutschlands in die Nähe der Hauptstadt — aus beruflichen Gründen. „Ende der 1990er-Jahre, als in München der Internet-Hype stattfand, war in Berlin nur Party, doch das hat sich gewandelt“, erzählt der studierte Kommunikationswissenschaftler. „Auf die Technologie folgten auch die Dienstleister, Unternehmen und Politik. Längst ist die Stadt wieder ein Magnet und eine Metropole geworden. Da wollten wir näher dran sein.“
Seine neue Heimat fand das Unternehmen Interlake inmitten der Potsdamer Havelseen, in der Medienstadt Babelsberg, einem traditionsreichen Film- und Fernsehstandort: gerade mal einen Quadratkilometer groß, dafür aber mit mehr als 100 Jahren Geschichte und mehr als 100 Unternehmen, die sich auf verschiedenste Art und Weise mit Technologie befassen. „Technologie ist ein gemeinsames, vernetzendes Element — das Fundament für verschiedene Branchen, die alle in ihren ‚Tunneln’ gefangen sind“, erklärt Slazenger. „Heute haben wir immer mehr Leute, die Löcher schlagen und diese Tunnel verbinden.“
Der Mittelstand: mehr Wettbewerb wagen
Der deutsche Mittelstand gilt als innovations- und investitionsscheu. Zwar versprechen sich neun von zehn Unternehmern in Deutschland viel von Technologien wie Robotik, Blockchain oder künstlicher Intelligenz, wie eine 2018 veröffentlichte Studie des Branchenverbandes Bitkom ergab. Doch in der Praxis bleibt die Innovation meist auf der Strecke, stellte nicht zuletzt eine Expertenkommission der Bundesregierung fest. Und der Wettbewerb wird durch zahlreiche Start-ups noch deutlich verschärft.
Auch deshalb rief das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie die Digital Hub Initiative ins Leben. Sie soll etablierte Unternehmer besser mit der Gründerszene, aber auch der Wissenschaft vernetzen. „Es geht darum, Unternehmertum zu fördern, digitale Lösungen und Geschäftsmodelle voranzutreiben“, erklärt Andrea Wickleder. Sie ist Managerin am MediaTech Hub Potsdam — einem von zwölf Standorten der Digital Hub Initiative in Deutschland.
Dass Potsdam für den Bereich Medientechnologie ausgewählt wurde, lag nicht zuletzt am Engagement von Unternehmern wie Sven Slazenger. „Der Netzwerkgedanke wurde hier schon vorher gelebt. Anfangs waren das einfach Menschen, die sich sowieso schon getroffen haben“, sagt Slazenger und erzählt von Abenden auf seiner Terrasse mit stetig wachsenden Runden. „Aber sobald sich das formalisiert, hat man ganz andere Möglichkeiten: Dann ist ein Treffen nicht mehr Zufall, sondern es wird gefiltert, sortiert und kanalisiert.“ So kam es dazu, dass eine Gruppe von etwa 30 Unternehmern sich 2017 für die Bewerbung als Hub-Standort engagierte.
„Was wir nicht können, kann jemand anderes aus dem Netzwerk“
Heute, zwei Jahre später, sind Potsdamer Unternehmen und Start-ups, Forschungseinrichtungen und Hochschulen, die sich mit Medientechnologie beschäftigen, automatisch Teil des hiesigen MediaTech Hubs. Immer wieder entstehen neue Kooperationen. „Das, was wir nicht können, kann jemand anderes aus dem Netzwerk“, weiß Sven Slazenger.
„Deutschland unterscheidet sich ganz stark vom Silicon Valley“, sagt Hub-Managerin Andrea Wickleder. „Es gibt hier nicht den einen zentralen Ort, an dem sich technologie-getriebene Innovation sammelt.“ Sie erklärt, dass die zwölf Standorte der Digital Hub Initiative von Hamburg bis München, von Köln bis Berlin auch wegen ihrer historisch gewachsenen Schwerpunkte ausgewählt wurden. Dabei hatte sich Potsdam bei der Bewerbung nicht vor dem Vergleich mit dem Silicon Valley gescheut. Immerhin liegt die Brandenburger Landeshauptstadt wie das amerikanische Start-up-Zentrum — Heimat von Apple und Facebook, eBay und Netflix — vor den Toren einer Metropole. Hier Berlin, dort San Francisco.
Den zweidimensionalen Raum verlassen
Seit zwei Jahren geht es nun darum, diesem ambitionierten Vergleich gerecht zu werden: durch digitale Innovationen. Der Stolz des Standortes Potsdam ist bislang Volucap: ein volumetrisches Studio, in dem digitale Abbilder von Menschen, mit ihrer gesamten Präsenz, Mimik und Gestik, erzeugt werden können. 2016 hatte eine kleine Abordnung um Slazenger Zugang zu dem seinerzeit einzigen volumetrischen Studio für begehbaren Film in Redmond bei Seattle/Washington, dem Sitz von Microsoft. Nach der Rückkehr arbeitete ein Konsortium — bestehend aus dem Studio Babelsberg, dem Kamerahersteller Arri, dem Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut, dem Filmunternehmen UFA und eben Interlake — am Aufbau des Studios.
Heraus kam das erste sichtbare Ergebnis des MediaTech Hubs — das nicht nur für Film und Fernsehen, sondern auch für Computerspiele, virtuelle Führungen und Schulungen eingesetzt werden kann. „Wir sind schon weit weg von der reinen Unterhaltung und lösen konkrete Probleme“, sagt Sven Slazenger. „Autonomes Fahren, experimentelles Operieren, alles, was mit Verarbeitung von Bildern zu tun hat, ist MediaTech.“ Der Medienbegriff habe sich längst erweitert und sei nicht mehr nur auf Fernsehen, Radio, Internet und Zeitschriften beschränkt. „Die neuen Sender haben keine Antennen mehr auf dem Dach und beschallen uns auf dem Sofa“, sagt der Unternehmer und nennt Daimler, Lufthansa und BASF als die neuen Medienunternehmen. Die Inhalte mussten endlich den zweidimensionalen Raum verlassen, findet er.
Pioniergeist aus Tradition
Andrea Wickleder betont, dass in Potsdam nicht erst seit der Entstehung des MediaTech Hubs Lösungen entwickelt werden: „Die Unternehmen hier arbeiten schon seit Jahren an neuen Ideen. Wir machen den Innovationsgeist jetzt einfach sichtbarer“, sagt Wickleder. „Pioniergeist aus Tradition“ nennt sie das. Von dieser Sichtbarmachung profitieren auch kleinere Start-ups wie Multicast Media by Yoxxy. Dessen Gründer und Geschäftsführer Robert Förster kommt ursprünglich vom Radio. Er suchte nach einer Lösung, lineare Inhalte online besser auffindbar und darstellbar zu machen. „Aus dieser Problemstellung heraus haben wir unser Start-up gegründet“, sagt der Babelsberger Unternehmer.
Bei einem Netzwerkabend saß er zufällig neben einem UFA-Verantwortlichen. „Die UFA benötigte für die Internationalisierung ihrer Serien Untertitel in verschiedenen Sprachen“, erinnert sich Förster. Weltweit hatte das Filmunternehmen bereits nach Partnern gesucht und mit vielen Größen der Branche gesprochen. Nun ging die Frage an Förster, was er denn eigentlich so mache. „Da sagte ich, dass wir Audio- und Videomaterial transkribieren und automatisch übersetzen können.“ Zwei Tage später saßen die Tischnachbarn wieder zusammen — bei einem Test. Multicast Media schloss besser ab als alle anderen Firmen zuvor und erhielt den Auftrag, die TV-Serien Verbotene Liebe und Gute Zeiten, schlechte Zeiten zu internationalisieren. „Am Ende hätten sie bei der UFA nur aus dem Fenster gucken müssen, um ihren neuen Partner zu finden“, schmunzelt Förster.
Standort, Unternehmen und Lösungen bekannter machen
Der MediaTech Hub Potsdam befindet sich noch in der Aufbauphase. Das Management wird durch Fördergelder der Stadt Potsdam und des Landes Brandenburg finanziert — mit einem hohen sechsstelligen Betrag für drei Jahre. Dass es danach weitergeht, scheint klar. „In Potsdam hatte das Netzwerk auch vor uns schon Bestand, etwa durch die Arbeit des media:net berlinbrandenburg. Unsere Aufgabe ist in erster Linie Standort-Marketing: Hiesige Player und die Lösungen, an denen hier gearbeitet wird, bekannter zu machen“, sagt Andrea Wickleder.
Dafür arbeitet sie auch mit Sven Slazenger zusammen — tatsächlich Tür an Tür, denn Wickleder und ihre Kollegin Alina Wilhelm haben ihr kleines MediaTech-Hub-Büro in dessen Unternehmen Interlake. „Langfristig wäre natürlich ein begehbares MediaTech-Hub-Haus mit Lösungen zum Anfassen unser Traum“, sagt sie. Das wäre dann auch ein greifbarer Beleg für die wachsende Bedeutung der Digitalisierung.
Fazit: Digitale Transformation ist die Herausforderung der modernen Arbeitswelt. Doch gerade im Mittelstand fehlt es an Ressourcen und Know-how. Die Unternehmer sind auf neue Kollaborationen angewiesen. Um sie mit der innovativen Start-up-Szene zusammenzuführen, hat das Bundeswirtschaftsministerium die Digital Hub Initiative mit zwölf Standorten in Deutschland ins Leben gerufen. Am MediaTech Hub Potsdam dreht sich alles um Medientechnologie: Hier arbeiten etablierte Unternehmer, Gründer und Forscher gemeinsam an digitalen Lösungen. Zusammenarbeit gab es in Potsdam durch individuelles Engagement und Vernetzung auch vorher schon. Der MediaTech Hub hat das Ganze formalisiert und organisiert. So können alle Partner gemeinsam nach außen auftreten.
Experten-Einschätzung
Dr. Reinhard Nenzel beobachtet mit dem unternehmermagazin die Entwicklung des Mittelstands seit Jahren — die Fachzeitschrift für Unternehmer erscheint mittlerweile im 67. Jahrgang. Nenzel nennt sie die „Mutter sämtlicher Medien in dem Segment für Mittelständler und Unternehmer“. Etwa 80 Prozent der Eigentümer von mittelständischen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von zwei Millionen bis zwei Milliarden Euro sind seine Leser. Oft schreiben diese praxiserfahrenen Unternehmer selbst die Fachbeiträge — seit fünf Jahren vermehrt zum Thema „digitale Transformation“, da die Digitalisierung alle Bereiche der Wirtschaft betreffe: Produzenten, Dienstleister und Händler. Doch während große Firmen eigene IT-Fachleute und sogar IT-Abteilungen hätten, fehle es bei Familienunternehmen vielfach an professionellem Know-how. Die ältere Generation sei nicht in der digitalen Welt aufgewachsen und werde die neuen Kernkompetenzen nicht mehr erlangen. Insofern bedürfe es einer stärkeren Zusammenarbeit. Wenn es gut laufe, entstünden jedoch selbst entwickelte neue digitale Angebote und Produkte, bis hin zu neuen innovativen Geschäftsmodellen. „Viele kleine Unternehmen haben noch gar nicht mit der digitalen Transformation begonnen; das wird ihnen möglicherweise das Genick brechen“, prophezeit Nenzel, der auch als Chefredakteur des unternehmermagazins fungiert, und fordert: „Mittelständler müssen sich auf den Weg machen, zu kollaborieren — und intensiv kommunizieren“.
Text: John Hennig
Fotos: David Marschalsky
Grafik: LauferNeo