Erschöpfungsstolz frisst Schöpferkraft
Diplom Psychologe Stephan Grünewald über die Aussage, warum Dehnungsfugen produktiver sind als Effizienzdiktate.
Stephan Grünewald ist Diplom Psychologe, Mitbegründer des renommierten rheingold-Instituts und Bestsellerautor. Er wurde am 8. November 1960 geboren und studierte Psychologie an der Universität Köln. Der »Psychologe der Nation« (Frankfurter Allgemeine) ist ein viel gefragter Experte in den Medien. Sein neustes Buch »Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft« (Kiwi) erschien 2019.
Warum ist unsere Arbeit kreativitätsfeindlich?
Das Thema Inspiration rückte in meinen persönlichen Blick, als ich vor einigen Jahren das Buch »Die erschöpfte Gesellschaft – Warum Deutschland neu träumen muss« schrieb. Mir war damals in vielen Studien aufgefallen, dass ein Großteil unserer Arbeit kreativitätsfeindlich ist und die individuelle oder gesellschaftliche Schöpferkraft zersetzt. Das Hamsterrad dreht sich immer schneller und ich befand mich wie viele meiner Zeitgenossen in einem Modus besinnungsloser Betriebsamkeit. In Tiefeninterviews beschrieben mir damals viele Menschen, dass sie am Ende eines langen Arbeitstages keinen Werkstolz mehr empfinden würden. Mitunter wussten sie gar nicht mehr, was sie alles betrieben hatten. Der Sinnzusammenhang des Tages war buchstäblich im Furor der Meetings, der Telefonate und der endlosen Mailkaskaden geschreddert worden. Die Arbeit fügte sich also am Ende des Tages nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen, auf das man zufrieden oder stolz zurückblicken konnte. Was vom Tage übrig blieb, war jedoch ein Gefühl der Mattigkeit und Erschöpfung. Oft wurde dann der Werkstolz durch einen Erschöpfungsstolz ersetzt. Die Arbeitenden waren stolz auf den Grad der Erschöpfung, den sie im Laufe des Tages erlangt hatten. Die Erschöpfung wurde für sie zu einem Produktivitäts-Gradmesser. Wer abends völlig ausgelaugt auf dem Sofa lag, hatte das Gefühl »Wow, was muss ich heute alles geleistet habe, dass ich jetzt so fertig und kaputt bin!«
Der Erschöpfungsstolz
Der Erschöpfungsstolz wurde oft noch durch die Kollegen befeuert. In vielen Unternehmen herrschte ein Wettbewerb um den inoffiziellen Titel des Verausgabungsmeisters. Gestrunzt wurde am Montag damit, wie viele Mails man sogar am Wochenende weggeschrubbt hatte. In der Woche sammelte man fleißig Überstunden und hütete sich, vor den Kollegen das Büro zu verlassen. Der drohende Burnout wurde mitunter nicht mehr als Krankheit erlebt, sondern als eine moderne Tapferkeitsmedaille. Denn Burn-out impliziert ja, dass man für seine Arbeit gebrannt hat, dass man wie eine Kerze bereit war, das eigene Wachs dem Wachstum zu opfern.
Wie lasse ich den Erschöpfungsstolz hinter mir?
Aber wer erschöpft ist, wird nicht schöpferisch. Die Frage, die ich mir damals auch für mein eigenes Leben stellte, war: Wie komme ich von einer besinnungslosen Betriebsamkeit in eine besinnungsvolle Unbetriebsamkeit? Heute nach 2 Jahren Corona und einer zunehmenden digitalen Verdichtung, die oft auf Kosten der Tagesstruktur, der Pausenkultur und des kollegialen sozialen Austauschs geht, ist diese Frage noch wichtiger geworden. Denn Kreativität und Innovationskraft brauchen einen Rhythmus von Tag und Traum, von Betriebsamkeit und Innehalten. Die großen Ideen entstehen nicht, wenn wir uns in ein Problem verbeißen oder gebannt auf den Computer starren, sondern wenn wir aus dem Fenster schauen, auf dem Klo sitzen oder spazieren gehen. Die situative Durchlässigkeit oder das zweckfreie Tun entbindet vom Effizienzdiktat und eröffnet den inneren Freiraum, der neue Einfälle, Erfindungen, Dicht- oder Ingenieurskunst erst ermöglicht. Ich habe damals versucht, meinen eigenen im Buch entwickelten Empfehlungen zu folgen. Der Tag braucht Dehnungsfugen, also Pufferzeiten, die völlig unverplant sind. Damit meine ich die wertvollen und oft als ineffizient diskreditierten Übergangszeiten wie etwa die Fahrten zur Arbeit, die Kaffee- oder Mittagspausen, die Flurgespräche oder die kleinen Träumereien am Arbeitsplatz. Der temporäre Müßiggang ist eben nicht aller Laster Anfang, sondern aller Inspiration Beginn.